Eine wichtige Kompetenz: Übergänge gestalten (Teil 2)
Ute Ohme: Lieber Herr Orthey, ich freue mich, dass Sie an dieser Stelle in einen Austausch über die von Ihnen definierten Transversalitätskompetenzen treten wollen. Als ich Ihre Beschreibung las, war ich sehr deutlich an viele Prozesse erinnert, die meiner Erfahrung nach bei internationaler Mobilität eine Rolle spielen. Haben Sie die von Ihnen geschilderte Befähigung, häufige Übergänge zu gestalten, bereits auf international mobile Personen bezogen?
Frank Michael Orthey: Ich erlebe in Coaching- und Trainingssettings Menschen, die international mobil sind – oder es sein müssen. Dass diese besondere Fähigkeiten benötigen, um die vielfältigen Herausforderungen angemessen und für sie stimmig zu bewältigen, wurde mir in Fallschilderungen in meiner praktischen Arbeit deutlich. Das, was es braucht, habe ich damals „Transversalitätskompetenzen“ genannt. Später wurde der Begriff dann nach meiner Wahrnehmung oft auf „transversale Kompetenzen“ verkürzt und schlicht für „übergreifende“ Kompetenzen verwendet. Ich wollte aber zum Ausdruck bringen, dass es sich um eine zur Übergangssituation querverlaufende, also wenn Sie so wollen, diese kreuzende Reflexion handelt. Es geht also im Kern um Reflexion in der und über die konkrete Übergangssituation. Wer also Transversalitätskompetenzen besitzt, der- oder diejenige kann sich in der herausfordernden Situation reflektieren. Und damit erkennen, wo er oder sie in der Übergangsdynamik gerade steckt, konkret also, was zum Beispiel gerade ausgerechnet zum gegenwärtigen Zeitpunkt Trauer, Unsicherheiten, Ängste oder Befürchtungen auslöst. Und herausfinden, was sie oder er braucht, um Sicherheit und Handlungsfähigkeit zurückzuerlangen. In den Anliegen, aus denen ich den Begriff quasi generiert hatte, wird der doch etwas sperrig anmutende Begriff sehr greifbar.
Interessant finde ich, dass in konkreten Coachinganliegen die von Ihnen benannten „Mitreisenden“ durchaus häufiger auftauchen. Gerade die familiäre Situation scheint viele Menschen, die viel reisen und weltweit mobil sind, sehr zu beschäftigen und häufig auch zu bedrücken.
Den Begriff der Transversalitätskompetenzen hatte ich mir Mitte der 1990er-Jahre einfallen lassen. Die Begriffswahl war auch bestimmt durch die Idee der „transversalen Vernunft“ von Wolfgang Welsch, die die Fähigkeit bezeichnete, zwischen unterschiedlichen Rationalitäten zu vermitteln. Zwischenzeitlich hatte ich den doch etwas schweren Begriff durch „Übergangskompetenzen“ übersetzt. Mittlerweile wurde der Begriff von den Lebens- und Arbeitswirklichkeiten eingeholt. Mann und Frau sind ja vielfach mobil in der Welt heutzutage.
U.O.: Transversalitätskompetenzen (oder auch Übergangskompetenzen) sind ein Zusammenspiel von verschiedenen Fähigkeiten: sinnvoll abschließen, Unsicherheiten des Übergangs identifizieren, Anschlussmöglichkeiten finden, anknüpfen an das Neue und so weiter. Trotzdem bleiben dies eher abstrakte Beschreibungen. Können Sie diese Prozesse noch etwas anschaulicher benennen?
F.M.O.: Nehmen wir das Beispiel einer in China tätigen Führungskraft. Sie musste zunächst mit der Wirklichkeit des fränkischen Dorflebens abschließen, den Kollegenkreis und übrigens auch die bisher verfolgten Karrierepfade verabschieden, sich darüber klar werden, welche Herausforderungen mit der beruflichen Chance in China verbunden sein würden, diese präventiv und in der Situation bearbeiten und gestalten – und dann in der neuen, fremden Kultur Fuß fassen. Nebst hochschwangerer Ehefrau. Und dabei natürlich auch noch arbeiten – und auch das unter fachlich, sozial und kulturell völlig anderen, neuen Bedingungen. Das hat in dem Fall gut geklappt. Jedenfalls bis der Stammhalter geboren wurde. Das führte zu Herausforderungen, die den Coachingprozess stark bestimmten, weil die daraus entstehenden Situationen die Führungskraft und das gesamte Familiensystem an ihre Grenzen brachten.
U.O.: Mitreisende PartnerInnen, die eine Berufstätigkeit verfolgen oder aber dies tun möchten, müssen sehr selbstorganisiert und kreativ mit ihrer Situation umgehen. Sie verfügen nicht selten über ein reichhaltiges Patchwork an Erfahrungen, aber keinen stringenten beruflichen Lebenslauf. Mitreisende haben einen erlernten Beruf, dann aber häufig im Rahmen ihrer internationalen Mobilität verschiedenste Tätigkeiten (auch zum Beispiel „ehrenamtlich“) ausgeübt. Manche Mitreisende nehmen zudem Chancen von Weiterbildung wahr, auch wenn sie nicht ihrem ursprünglichen Berufsbild entsprechen. Mit diesem bunten Erfahrungsprofil einen beruflichen Übergang beziehungsweise Anschluss in Deutschland zu gestalten bleibt herausfordernd. Verfügen Mitreisende, denen dieser Übergang gelingt, (neben anderen Aspekten, die hier zu weit führen) somit über Transversalitätskompetenzen?
F.M.O.: Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Denn sie haben Erfahrungen mit den vielen Facetten von Veränderung gemacht. Einschließlich der lustvollen und gewinnbringenden Seiten, die solche auch eröffnen. Gerade wenn sie sehr herausfordernd daherkommen. Diese Ressource international Mitreisender mit ihrem Patchwork an Erfahrungen könnte auch gut genutzt werden zur Einstimmung und Kompetenzentwicklung zukünftig Betroffener. Sie wären insofern attraktiv für die Vorbereitung dieser Menschen. Ähnlich wie es für Personalabteilungen heute oft auch Personen mit sogenannten Bruchbiografien sind. Früher aussortiert, werden diese heute eher geschätzt. Denn sie haben ja bewiesen, dass sie mit Veränderungen umgehen können. Und das macht sie besonders geeignet für Kontexte, die von permanenten Veränderungen gekennzeichnet sind.
Insofern: Ja, Mitreisende können Transversalitätskompetenzen entwickeln. Vielleicht auch deshalb etwas leichter, weil sie womöglich etwas leichter etwas mehr Distanz zum Übergangsgewusel einnehmen können.
U.O.: Kann man Transversalitätskompetenzen üben?
F.M.O.: Indem sich Menschen selbst kleinen oder großen Übergängen und Veränderungen aussetzen, können sie Erfahrungswissen aufbauen. Das kann in Lernsettings, aber auch in Freizeitsettings erfolgen, zum Beispiel beim Reisen. Vorausgesetzt die Erfahrungen werden reflektiert und auf zukünftiges Verhaltensrepertoire bezogen. In Lern- oder Trainingssettings können solche herausfordernden Situationen dadurch simuliert werden, dass Menschen mit komplexen Veränderungen konfrontiert werden. Das Spektrum reicht von gruppendynamischen Settings über Planspiele bis hin zu erlebnisorientierten Designs. Zentral ist dabei, dass die arrangierten Veränderungsimpulse mit Störungen „gewürzt“ sind. Denn das ist es, was die heutigen Übergangsprozesse als Normalität kennzeichnet. Störungen, die sich Vorrang nehmen. Auch für ausgefuchste Veränderungsroutiniers kommt es meist doch irgendwann mal anders als erwartet. Wie etwa im Falle der zusammenbrechenden Wasserversorgung und der Schwierigkeit, den Säugling angemessen zu ernähren. Das sind sie dann, die Überfälle auf die gerade mal eben zusammengeflickten und ein bisschen nett gemachten neuen Wirklichkeiten.
Dazu benötigen Transversalitätskompetenzen auch Anteile der anderen von mir benannten Meta-Kompetenzen, insbesondere Beobachtungs- und Pluralitätskompetenzen. Das heißt, es braucht die Fähigkeit, sich selbst in der Welt und ihren Systemen sensibel und differenziert wahrzunehmen und beobachten zu können. Und mit Vielfalt und Vielheit und den damit häufig einhergehenden hohen Unsicherheitsniveaus umgehen zu können.
Hilfreich wird von Betroffenen häufig der Austausch mit Kollegen oder anderen Familienangehörigen oder Freunden mit ähnlichen Herausforderungen und auch professioneller begleitender Support, zum Beispiel im Coaching, wahrgenommen. Da geht es neben der handlungsorientierten Erweiterung des Möglichkeitssinns und der Entwicklung von Kompetenzen zudem meist vor allem um Entlastung.
U.O.: Herr Orthey, ich danke Ihnen herzlich für diesen Austausch.
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